Vielleicht ist Dankbarkeit gar nicht das, was du denkst

Ich hab ehrlich gesagt lange nichts anfangen können mit diesem ganzen „Sei dankbar“-Zeug. Es klang für mich immer ein bisschen nach Selbstoptimierungsparole, nach Kalenderblatt-Weisheit. „Zähl deine Segnungen.“ Ja, danke auch – aber was, wenn man gerade nur Dunkel sieht?

Und dann kam so ein Moment. Kein dramatischer. Kein Hollywood-Tiefpunkt. Einfach ein Abend, an dem mir alles zu viel war. Der Tag war mies gelaufen, ich war müde, innerlich leer. Eine Freundin sagte leise: „Schreib mal drei Dinge auf, für die du heute dankbar bist.“

Ich hab sie angeschaut wie jemanden, der gerade völlig den Bezug zur Realität verloren hat. Ich sollte froh sein? Jetzt? Gerade?

Aber ich hab’s gemacht. Vielleicht, weil ich nichts anderes mehr wusste.

Ich schrieb:

– Der Tee war noch warm, als ich ihn endlich getrunken hab.
– Ich hab durchgehalten.
– Ich hab jemanden angelächelt, obwohl mir nicht danach war.

Es war nicht viel. Und es hat auch nicht sofort alles leichter gemacht. Aber irgendwas… hat sich gelöst. Nicht laut. Nur so, als hätte mein System einmal tief durchgeatmet.

 

Kein Rezept. Kein Trick. Nur ein anderer Blick

Dankbarkeit ist für mich heute nicht mehr das große Gefühl, das plötzlich kommt und alles umarmt. Sie ist leise. Manchmal kaum da. Manchmal schaut sie nur kurz vorbei, setzt sich neben dich, sagt nichts – aber du fühlst, dass sie da ist.

Sie steckt in diesen Mini-Momenten: Wenn das Wasser in der Dusche genau die richtige Temperatur hat. Wenn jemand deine Nachricht liest – und wirklich antwortet. Wenn du nach einem anstrengenden Gespräch die Stille wieder wahrnimmst.

Ich hab gelernt: Es geht nicht darum, immer dankbar zu sein. Sondern darum, die Augen zu öffnen für das, was trotzdem da ist. Trotz allem. Trotz mir.

 

Dein Körper merkt sich das

Ich weiß, es klingt fast zu simpel. Aber dein Körper merkt, worauf du dich konzentrierst.

Wenn du ständig auf das schaust, was fehlt, zieht sich dein System zusammen. Du wirst eng. Angespannt. Müde.

Wenn du dich – und sei’s nur ganz kurz – auf etwas Kleines fokussierst, das schön war, dann passiert was. Nicht nur im Kopf. Sondern auch da, wo du’s körperlich spürst: Die Schultern sacken ein Stück tiefer. Der Kiefer lässt los. Du atmest ein bisschen ruhiger. Und manchmal – ganz selten – sogar leichter.

Ich find’s schön, dass das geht. Dass wir die Fähigkeit haben, uns selbst kleine Inseln zu bauen. Ohne irgendwas kaufen zu müssen. Ohne Technik. Nur durch einen Gedanken.

 

Schreiben hilft. Ehrlich.

Ich war nie Tagebuchmensch. Ich hab’s immer probiert und nach drei Seiten aufgehört. Ich dachte, ich müsste irgendwas Schlaues schreiben oder poetisch klingen. Heute weiß ich: Schreiben darf roh sein.

Ich schreib manchmal einfach nur:

– Heute war’s schwer.
– Ich hab kaum was geschafft.
– Aber ich hab versucht, mich nicht zu verurteilen.

Manchmal schreib ich auch gar nichts. Ich spreche es laut. Oder flüstere es. Für mich allein.

Und es tut gut. Weil ich mir dabei zuhöre. Nicht auf Instagram, nicht vor Leuten – sondern ehrlich.

Manchmal entdecke ich beim Schreiben Dinge, die ich im Alltag übersehe. Ich lese einen alten Eintrag und denke: „Stimmt, das war auch schön.“ Obwohl ich das total vergessen hatte.

Das ist für mich Dankbarkeit: Erinnern. Und anerkennen, was ich sonst vielleicht gar nicht wahrgenommen hätte.

 

Wenn’s nicht geht, dann geht’s halt nicht

Und jetzt mal ehrlich: Es gibt Tage, da bringt dir kein Journaling der Welt was. Da willst du niemandem danken. Nicht mal dir selbst.

Ich kenn das. Ich glaub, wir alle kennen das.

Und dann ist das eben so.

Du musst nicht immer stark sein. Du musst nicht immer das Gute sehen. Dankbarkeit ist keine Pflichtübung. Sie ist ein Angebot. Und du kannst auch mal Nein sagen.

An manchen Tagen reicht es, wenn du einfach da bist. Wenn du atmest. Wenn du durchhältst. Wenn du nicht aufgibst, obwohl es einfacher wäre.

Auch das ist etwas, das du irgendwann anerkennen kannst. Vielleicht nicht heute. Vielleicht erst viel später.

 

In Beziehungen wird sie noch mal wichtiger

Ich hab gemerkt: Wenn ich mir angewöhne, Danke zu sagen – nicht automatisch, sondern bewusst –, verändert das was.

In meinen Freundschaften. In Gesprächen mit Kollegen. Sogar in den Momenten mit Menschen, mit denen ich mich manchmal reibe.

Es ist ein Unterschied, ob du sagst: „Danke fürs Zuhören“ – oder ob du sagst: „Es hat mir gerade wirklich gutgetan, dass du da warst.“

Nicht immer ist der Moment dafür da. Nicht jeder Mensch reagiert offen. Aber oft… entsteht Nähe. Und manchmal bleibt genau dieser Moment hängen. Auch beim anderen.

 

Du bist der Anfang

Wir warten oft auf den perfekten Moment. Auf die Pause. Die richtige Stimmung. Den mental freien Tag.

Aber was, wenn der nie kommt?

Was, wenn du einfach jetzt anfängst – egal, wie laut dein Kopf ist, wie leer dein Herz oder wie voll dein Kalender?

Du musst nicht gleich dein ganzes Leben ändern. Aber du kannst den Blick leicht kippen. Für einen Moment.

Und du wirst sehen: Vielleicht ist genau das der Anfang.

Nicht weil alles sofort besser wird. Sondern weil du plötzlich wieder fühlst, dass da etwas ist, das dich trägt.

 

Eine kleine Übung – ganz ohne Druck

Wenn du willst, probier das mal aus. Kein großes Ritual. Keine spirituelle Choreografie. Nur du und ein Moment mit dir selbst.

Nimm dir kurz Zeit. Zwei Minuten reichen.

Setz dich irgendwo hin, wo’s ruhig ist. Oder auch nicht – Hauptsache, du bist kurz bei dir.

Und dann frag dich:

> „Was war heute da, wofür ich – ehrlich – dankbar sein kann?“

Kein Zwang. Kein „muss schön klingen“. Schreib’s auf, wenn du magst. Sprich’s leise. Denk’s einfach nur.

Vielleicht sowas wie:

– Ich hab mir Zeit genommen, zu atmen.
– Ich wurde heute nicht überrannt.
– Jemand hat mich angelächelt.

Drei Dinge. Nicht mehr.

Wenn du das öfter machst, wirst du merken: Dein Blick verändert sich.

Und wenn nicht? Dann warst du trotzdem für zwei Minuten ehrlich bei dir. Und das… ist sowieso das Wichtigste.